14 September 2010

Westfälischen Rundschau, Kritik von Ursula Oelgemöller

Es gehört Mut dazu, ein Konzertprogramm am Sonntagmorgen ausschließlich mit „Nocturnes“, also „Nachtstücken“ zu gestalten, doch das Wagnis gelang:

Wenn Amir Katz, im Jahr 2003 Gewinner des Schubert-Wettbewerbs in Dortmund, als Hommage an den 200. Geburtstag des Komponisten den gesamten Chopin-Zyklus der 21 Nocturnes spielt, dann hat das nichts Gleichförmiges oder Einschläferndes, im Gegenteil: Es wird zur abwechslungsreichen und spannenden Darbietung.

Mit dem in Israel geborenen Pianisten, der seit seinem Studium seinen Wohnsitz in Deutschland hat, ist der Konzertgesellschaft in Zusammenarbeit mit der Bürgerstiftung Rohrmeisterei gelungen, einen gefragten Klavierexperten romantischer Klaviermusik für Schwerte zu engagieren, der am hellichten Morgen musikalische Sterne funkeln ließ.

Amir Katz, auf einer Lichtinsel in der ansonsten dunklen, gut gefüllten Halle III der Rohrmeisterei sitzend, begann seine Interpretation Chopins am Bösendorfer, dessen imposante Mechanik sich im tiefschwarz lackierten Deckel im Scheinwerferlicht spiegelte, mit noch verhaltener Intensität – es war die Einstimmung und Einladung an seine zahlreichen Zuhörer, sich der schwelgerischen Sogkraft dieser Nocturnes zu überlassen.

Chopin hat in diesen Nocturnes Tagträume konzipiert, kleine Geschichten in typisch romantischer formaler Ungebundenheit, die unterschiedlichste Seelenzustände schildern; er selbst hat vom „freien Spiel unter Sternen“ gesprochen, und Amir Katz vermochte seinem Publikum die Freude an diesem „Spiel“ mit der virtuosen Leichtigkeit und Klarheit seines pianistischen Könnens zu vermitteln.

Der Künstler präsentierte sämtliche Nocturnes in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung. Aber welche Differenzierungen gestaltete er in den einzelnen Stücken – so z.B. in den Nummern 2 und 3, die zwar beide in einem tänzerischen 3er-Takt komponiert sind, aber von Amir Katz in ihrer Atmosphäre, mal beruhigend wiegend, mal tänzerisch leichtfüßig, sehr unterschiedlich interpretiert wurden.

Seine Gestaltungskraft zeigte sich sehr überlegt in eher zurückhaltenden Mitteln: feinfühlige Melodieführung in der rechten Hand mit sehr sparsam eingesetzten leichten Tempoverschiebungen, minimaler Pedaleinsatz, klar perlende arabeskische Melodievariationen, Verzicht auf bei Chopin durchaus denkbare romantische Verschwommenheit.

Berückend waren die Anfänge und Schlüsse: Amir Katz materialisierte Träume für eine kurze Zeitspanne musikalisch, er fing sie aus der Schwebe der Luft, gestaltete sie und entließ sie, langsam verklingend, wieder in die nicht fassbare Schwebe ihrer Unendlichkeit. Aber auch die viel expressionistischer komponierten Mittelteile der Nocturnes interpretierte er in großer Intensität, seien es jäh aufflackernde Blitze ( Nr. 4 z.B.), seien es fast choralhaft anmutende Meditationen (Nr. 6 oder Nr. 11). Die geschlossenen Augen mancher Zuhörer zeigten, wie sie sich in dieser Musik selbst auf gedankliche Wanderschaft einließen.

So war es durchaus angemessen, dass, nach den beiden letzten, posthum erschienenen Nocturnes, Amir Katz seine Zuhörer mit einer rasanten und rasant gespielten Etüde (op.10/1 in C-Dur) als Zugabe in die sehr wirkliche Helligkeit des Sonntags entließ. Es waren Tagträume für sehr wache Hörer!

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