25 September 2010

CD Tipp der Woche von Bayern 4 Klassik , Kritik von Jürgen Seeger

Frédéric Chopin: Die Nocturnes

Nocturnes sind „Nachtstücke“ – was schon einiges über ihren Charakter aussagt. Nocturnes, das waren zunächst Kompositionen in gedämpfter Stimmung, mit einem Hauch von Sentimentalität. Beim Erfinder dieser romantischen Gattung, dem englischen Komponisten John Field, war das tatsächlich noch so.

Doch sein Zeitgenosse Frédéric Chopin, der John Field sehr verehrte, machte aus „seinen“ Nocturnes viel mehr als nur gefühlsselige Salonstücke für die schummrige Abendmusik. In Chopins Nocturnes wird nichts zugedeckt, Seelenzustände werden vielmehr offengelegt. Chopins Nocturnes sind abendliche oder nächtliche musikalische Erzählungen. Charakterstücke, die mal ganz ruhig von stillen Momenten, mal dramatisch-kraftvoll vom Geschehen des zurückliegenden Tages künden.

Musikalische Tagebuchaufzeichnungen

Zeit seines Lebens hat Chopin immer wieder Nocturnes geschrieben. Man kann sie hören als spontan und frei hingeworfene persönliche Notizen oder Tagebuchaufzeichnungen. Robert Schumann schrieb über Chopins Nocturnes op. 55: „Man kann hier eigentlich von einer bestimmten Form gar nicht, sondern nur von der allgemeinen Bezeichnung eines kleinen, elegischen oder doch sanften Tonstücks reden, denn weder in rhythmischer noch harmonischer Hinsicht ist diese Gattung fest bestimmt, vielmehr dem Geschmacke des Erfinder überlassen“. Wenn der Geschmack des Erfinder dann auch noch auf einen geschmackvollen Interpreten trifft, wie hier im Falle des Pianisten Amir Katz, dann ist das Chopin-Glück perfekt.

Hymnen der Nacht

Auf seiner neuen Doppel-CD spielt der 1973 in Israel geborene Amir Katz die 19 von Chopin zu Lebzeiten autorisierten und dazu die zwei posthum veröffentlichten Nocturnes: Interpretationen voller fließender Bewegung und innerer Bewegtheit. Sensible Deutungen, manchmal auch An-Deutungen. Hymnen der Nacht, die den Zuhörern Traumbilder vor das innere Auge stellen, die doch gleichzeitig voller klarer Konturen sind. Nach seiner bemerkenswerten CD mit Mendelssohns „Liedern ohne Worte“ zeigt Amir Katz hier erneut seine bemerkenswerte Gabe, das romantische Repertoire in seiner Gefühlstiefe, aber auch in seiner untergründig-introvertierten Dramatik auszuloten.

Erzähler am Klavier

Chopin meinte einmal, die linke Hand sei der Kapellmeister, sie spiele strikt rhythmisch. Die Rechte spiele ungezwungen im Rhythmus, sie müsse den wahren musikalischen Ausdruck herausholen wie ein Redner. Amir Katz gelingt dies bestens. Er weiß am Klavier etwas zu erzählen – mit großer Überzeugungskraft und voller Poesie.

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